Kalenderblatt Oktober 2008

Oktober 2008

Wabern - Neue Heimat für Vertriebene - Die Familie Ritschel

Das Schicksal von Heimatvertriebenen aus Ostpreußen, dem Sudentenland und Südosteuropa, deren Flucht und Vertreibung, sowie deren Neuanfang in der neuen Heimat Wabern war schon verschiedentlich Thema in unseren Heimatkalendern (vgl. Blätter 11/2002, 09/2004, 08/2005, 03/2006, 04/2006 und 07/2007).

Eine weitere Lebensgeschichte dieser Art nahm wiederum Ausgang im Sudetenland, und zwar in der - im Jahre 1930 - 874 Seelen zählenden Gemeinde Großbocken, im Landkreis Tetschen in Nordböhmen.

Walter Ritschel erzählt:

Ich wurde am 6.Mai 1930 in Großbocken (Dorfansicht siehe Foto: Mein Geburtshaus ist das in der Mitte rechts) als 2.Kind meiner Eltern Ernst, *1898 und Anna Ritschel, geb. Patzner, *1901, geboren. Meine Eltern sind auf dem Hochzeitsbild zu sehen. Bereits 1924 erblickte meine Schwester Edeltraud und erst elf Jahre später als ich selbst (1941) mein Bruder Günter das Licht der Welt. Ich besuchte die Volksschule in meinem Heimatort von 1936 bis 1940 und danach vier Jahre die Mittelschule in Ober Politz. Im Jahr 1944 begann ich eine Lehre als Elektrotechniker in der Lehrwerkstatt der Firma AEG in Tetschen-Bodenbach. Das Ende des 2. Weltkriegs und die Vertreibung aus meiner Heimat beendeten vorerst meine Ausbildung. Im Jahr 1945 wurden wir von zu Haue vertrieben und in ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager in der etwa 8 km entfernten Stadt Bensen interniert. Im Lager kamen wir mit 40 Personen in einen Raum mit Stockbetten, einen Tisch, sechs Hocker und einen kleinen Ofen für alle Insassen. Die Hilfe untereinander wurde damals ganz groß geschrieben. Im Jahr 1947 wurden dann Transporte zusammengestellt und die Menschen in verschiedene Landesteile nach Deutschland abgeschoben. Mit etwas Stroh in den Viehtransportwagen und unserem bisschen Hab und Gut kam unser Transport nach Mecklenburg, in die Kreisstadt Grevesmühlen. Vorerst wurden wir wieder in einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager untergebracht. Die Hütten waren halb in der Erde. Der Mittelgang war tiefer und die Strohlager waren links und rechts angebracht. Nach Wochen wurden wir dann auf die umliegenden Orte verteilt. Wir kamen nach Hamberge. Das Lager lag mitten im Wald, etwa 5 km von der Stadt entfernt. In einem Gutshof bekamen wir ein Zimmer, wo wir mit sechs Personen wohnten. Ich wurde zum Holzfällen für die russische Besatzung eingeteilt. Alles in Handarbeit, 10 Reichsmark pro Festmeter. Fällen, auf Meter sägen und aufstellen. Nach kurzer Zeit wurde ich nach Pötenitz in der Lübecker Bucht abgestellt, um mitzuhelfen, den dortigen Seeflughafen komplett zu demontieren. Nach dieser Arbeit kam ich schließlich in einen Vulkanisierbetrieb. Dort habe ich für die Russen Autoreifen runderneuert. In der Zwischenzeit hatte meine Mutter für mich nach langem Suchen eine Lehrstelle als Elektroinstallateur in Grevesmühlen gefunden. Von 1947 bis 1949 habe ich als Lehrling gearbeitet und die Gesellenprüfung abgelegt. Unter dessen hatte meine Mutter wieder Kontakt zu meinem Vater gefunden, der in englischer Gefangenschaft in der Nähe von Hamburg war. Da mein Vater auf keinen Fall in die Ostzone wollte, haben wir die Ausreise aus der Russischen Zone wegen Familienzusammenführung beantragt und nach langem Hin und Her auch bekommen. Mich wollten sie nicht ausreisen lassen, weil ich mit 19 Jahren und meiner Ausbildung als Spezialist galt. Nach einer Bescheinigung eines Arztes, dass ich Lungenkrank wäre, war das kein Thema mehr. Mein Vater war inzwischen aus der Gefangenschaft nach Wabern zu Verwandten entlassen worden. In Wabern endlich vereint, hatten wir wieder ein Zimmer für sechs Personen, im Haus (Rösler) in der Kurfürstenstraße (Oma, Eltern, ich und meine beiden Geschwister). Nach einiger Zeit bekam ich mit meiner Schwester ein eigenes Zimmer im Wimmer (frühere Schmiede Fennel). Mit der Arbeit hatte ich viel Glück. Ich bekam eine Arbeitsstelle bei der Firma Radio-Kahl in der Bahnhofstraße. Die Stelle wurde frei durch meinen jetzigen Freund Josef Wollny, der im Karlshof eine Anstellung gefunden hatte.

Ab dem Jahr 1950 konnte ich in der Zuckerfabrik Wabern als Elektriker arbeiten. Die Meisterprüfung als Elektroinstallateur legte ich im Jahr 1956 in Oldenburg ab. Im Jahr 1956 habe ich auch geheiratet. Meine erste Frau, Gerda, geb. Söhnel, stammte aus Alt Schokau, einer Nachbargemeinde meines Heimatortes Großbocken. Die Familie Söhnel kam mit ihrer Tochter aus Thüringen, wo sie ebenfalls als Vertriebene ausgesiedelt worden waren. Vater Ernst Söhnel war zufällig im selben Gefangenenlager in Hamburg wie mein Vater und folgte ihm nach Wabern. Beide kannten sich von zu Hause. Da ich schon immer ein eigenes Geschäft haben wollte, habe ich als Nebenbeschäftigung mein Gewerbe bereits am 01. September 1958 bei der Gemeinde in Wabern angemeldet und somit die gesetzliche Grundlage für meinen jetzigen Betrieb gelegt. Die damalige Elektroinnung hat das aber nicht gerne gesehen und sich schriftlich bei meinen damaligen Arbeitgebern beschwert. Im Jahr 1960 habe ich dann auf dem Flugplatz in Fritzlar eine Stelle als Elektromeister bekommen. In dieser Zeit habe ich auch an unser Haus, dass ich mit meinem Vater in den Jahren 1953/54 im heutigen Blumenweg erbaut hatte, einen Laden angebaut. Dadurch war es mir möglich, meinen Kunden ein größeres Sortiment an Waren anbieten . Durch die dauernden Beschwerden der Elektroinnung wegen meiner zweiten Tätigkeit ist mir irgendwann der Geduldsfaden gerissen und ich habe meine Tätigkeit auf dem Flugplatz in Fritzlar aufgegeben und mich ganz dem Geschäft gewidmet. Der damalige wirtschaftliche Aufschwung hat dazu beigetragen, dass mein Geschäft gut lief und ich bald einen Lehrling und einen Gesellen einstellen konnte. Ende der sechziger Jahre habe ich dann in der Landgrafenstraße ein Grundstück erworben um im neu entstehenden Zentrum von Wabern ein neues Geschäft zu errichten. Im Jahr 1973 wurde der Neubau bezogen. Im Erdgeschoss war mein Elektro- und Fernsehgeschäft mit Werkstatt und Garagen. Im Obergeschoss wollte ich meine Wohnung haben. Die Wände der neuen Wohnung waren gemauert, da wurde ich von Herrn Bürgermeister Wöllenstein gebeten, doch eine Arztpraxis und -wohnung einzurichten, da in Wabern zu der damaligen Zeit nur eine Arztpraxis vorhanden war. Also habe ich die Wände wieder abgebaut und nach Angaben der Architekten eine Arztpraxis eingerichtet. Für unsere Wohnung wurde das Dachgeschoss ausgebaut. Doch leider gab es auch private Rückschläge. 1973 verstarb meine Frau Gerda. Aus dieser Ehe stammen zwei Kinder: Tochter Ingeborg und Sohn Jürgen. 1974 heiratete ich in zweiter Ehe meine jetzige Frau Gerlinde, geb. Pettersch. Sie stammt auch aus einer Nachbargemeinde meiner ehemaligen Heimat, aus Kleinbocken. Mein Sohn Jürgen, der mein Geschäft jetzt führt, hat mit seiner Frau Petra, geb. Bubenhagen einen Sohn und zwei Töchter. Meine Tochter Ingeborg ist mit Kurt Jäger verheiratet. Sie wohnen mit ihrer Tochter in Uttershausen. Mein neues Wohnhaus, das ich in der Tannenbergstraße baute, habe ich im Jahr 1988 mit einer Photovoltaik-Anlage ausgestattet, welche als Pilotprojekt bundesweit erstmals errichtet wurde. Im Jahr 2008 werde ich hoffentlich mein 50-jähriges Geschäftsjubiläum feiern können.

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