Flucht aus Ostpreußen - Ein Flüchtlingsschicksal!
(2.Teil), Fortsetzung von Kalenderblatt August 2005
Es war der 5. März 1945. Sechs lange Wochen, Tag und Nacht waren wir auf der Flucht. Hatten unglaubliche Strapazen auf uns genommen und auch unseren Pferden zugemutet. Immer die Angst im Nacken: Nur nicht den Russen in die Hände fallen! An diesem Morgen ging die Kunde durch die Wagenkolonne, noch eine Tagesreise, dann sind wir an der Fahre nach Wollin. Das Schlimmste ist dann überstanden, so dachten wir. Doch dann geschah es! Russische Panzer kamen uns entgegen! Wer nicht umgefahren werden wollte, musste schleunigst von der Straße verschwinden. In der Nähe eines Gutes, bei einem Melker, fanden wir mit anderen Flüchtlingen Unterschlupf.
Die kämpfende Truppe kümmerte sich nicht um uns. Doch am späten Nachmittag kam die zweite Welle! Russische Soldaten mit Panzerwagen und auch zu Fuß, zogen durch das Dorf, stürmten in die Häuser und schrieen: "Uhr! Uhr!" und "Frau komm!" Draußen wurde geschossen! Frauen schrieen! Die Frau und Tochter des Melkers, meine Mutter und andere Frauen wurden sofort in einen Bretterverschlag auf dem Boden versteckt. Schränke und allerhand Zeug davor gestellt. Was in dieser ersten Woche mit den Frauen geschah, und was für eine Angst umging, ist nicht zu beschreiben, aus heutiger Sicht unvorstellbar! Sie machten sich auf alt zurecht, zogen schmutzige Kleider an, ja, manche sogar blutbefleckte Unterwäsche. Es half alles nichts! Wer sich nicht verstecken konnte, wurde von den Russenhorden, die Nacht für Nacht durchs Dorf zogen, vergewaltigt. Jeden Tag geschah etwas neues, unerwartetes, schreckliches! Eines Morgens hieß es, eine Frau ist in der letzten Nacht gestorben, verblutet. Noch etwa einer Woche wurde diesem wilden Treiben vom Kommandanten Einhalt geboten. Trotzdem geschah es immer wieder. Ein Pole war inzwischen mit unseren Pferden (die Stute hatte verfohlt) und dem Wagen davongefahren.
Vierzehn Tage waren vergangen, als es hieß: Morgen müssen sich alle Männer zwischen 15 und 50 Jahren zum Arbeitseinsatz meiden. "Fritz", sagte meine Mutter, "Du bist 51. Du brauchst nicht!". "Wenn Alfred gehen muss, dann gehe ich auch!", entgegnete er, "später holen sie mich doch!" Viele hundert Männer waren auf einem Gut zusammen geholt worden. Als die Kolonne am nächsten Tag durchs Dorf zog, liefen die Frauen weinend und klagend am Straßenrand nebenher. Meine Mutter auch: "Fritz! Alfred! Mein Gott was soll nun werden!?" Die Begleitposten trieben die Frauen mit Kolbenstößen zurück. Das war der Abschied! Für meinen Vater für immer. Für mich für mehr als zwei Jahre. In Gewaltmärschen ging es in südlicher Richtung noch Stargard, einem Eisenbahnknotenpunkt. Am zweiten oder dritten Tag blieb eine Gruppe junger Männer in Sträflingskleidung, blass und mager, in der Kolonne immer weiter zurück. Einer von ihnen stolperte immer wieder und drohte hinzufallen. Er wurde von zwei Kameraden gestützt. Da sprang plötzlich ein Posten herzu, schrie laut und deutete zum Straßenrand, dort solle man ihn hinlegen. Der Russe brachte ihn in Bauchlage, zog seine Pistole und tötete ihn durch einen Genickschuss. Das war für mich so etwas Entsetzliches. Vater und ich, wir schauten uns an. Keiner sprach ein Wort. Das Lager in Stargard war voll von Zivilgefangenen gleich uns. Als die recht große Kolonne am nächsten Morgen angetreten war, ging ein Offizier vorbei, zeigte auf junge Leute und deutete an: "Raustreten!" Ich war auch dabei.
Fortsetzung mit Kalenderblatt April 2006