Kalenderblatt April 2006

April 2006

Alfred Wenghöfer in der neuen Heimat

Flucht aus Ostpreußen - Ein Flüchtlingsschicksal! (3.Teil), Fortsetzung von Kalenderblatt März 2006

Als wir wegmarschierten, suchten meine Augen noch mal meinen Vater. Sein Gesicht war schmal, seine Augen blickten traurig. Das war unser Abschied! Für immer! Er und die vielen anderen Gefangenen wurden mit dem Zug nach Russland gebracht. Für uns reichte der Platz nicht aus, so dass wir marschieren mussten. Und wir marschierten tagelang. Es war sehr anstrengend. Die mitgenommenen Essensvorräte gingen zur Neige. Als wir in Schwibus ankamen mögen es vielleicht an die 150 km gewesen sein. Hier wurden immer wieder Transporte nach Russland zusammengestellt. Doch ich war nicht dabei. Ich lag mit hohem Fieber im Lazarett.

Ende April war es so weit: Wie Vieh wurden wir in den Waggon Richtung Russland gepfercht. Zwei Kübel für die Notdurft, die Türen von außen verriegelt. In der Erinnerung jetzt noch ein schreckliches Gefühl! Gegen Mitternacht, wir waren vielleicht sechs Stunden unterwegs, fielen draußen Schüsse. Der Zug hielt. Stimmen wurden laut. Plötzlich fuhren wir rückwärts! Dann alles aussteigen und wir marschierten nach Posen in ein Barackenlager. Später erfuhren wir: Weil Polen auch deutsche Arbeiter haben wollte, wurde dieser Transport gestoppt. Gott hatte mich zum zweiten Mal davor bewahrt, nach Russland transportiert zu werden. Das tägliche Beten und Danken gehörte seit Monaten zu meinem Leben. Nun zum Leben hinter Stacheldraht, zum Leben an der Grenze des Verhungerns und zum Leben mit schwerer Krankheit. Es war Juli. Ich wurde ins Lazarett gebracht. Schwitzen, Frieren, Schüttelfrost! Tagelang! Ohne die Möglichkeit, die Wäsche wechseln zu können. Schwerkranke, zu denen ich auch gehörte, wurden in Räume gelegt, die dem Ausgang zum Leichenplatz am nächsten waren. Einer nach dem anderen meiner Zimmerkameraden starben, wurde zu diesem Platz gebracht und mit Chlor bestreut, wie Unzählige andere aus dem Lager. Abend für Abend hörte ich, wie Mitgefangene diese nackten Körper auf einen LKW warfen, der sie in einen Panzergraben ablud. Das Wunder geschah! Ich wurde gesund! Ohne Medikamente!

Ende Oktober wurden wir entlassen. Welch eine Freude nun frei zu sein! Weit in die Landschaft sehen zu können. Wir, elf Jungen und ich, marschierten Richtung Frankfurt (Oder). Sogar ein russischer LKW nahm uns mit. Wir waren gut vorangekommen und suchten in Schwerin an der Warthe eine Übernachtungsmöglichkeit. Plötzlich waren wir von polnischen Polizisten umstellt. Wir zeigten unsere russischen Entlassungspapiere, die sie uns kurzerhand abnahmen und in einen Keller sperrten. Meine Niedergeschlagenheit war grenzenlos! Ein einziger schöner Tag in Freiheit und jetzt wieder eingesperrt! Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, kroch in eine Kellerecke und weinte. Zum ersten Mal seit meiner Gefangennahme! Am nächsten Morgen wurden wir zu einem Gut gebracht. Es war eine dieser typischen pommerschen Großgrundbesitzungen, mit riesigen Stallungen, einer Schnapsbrennerei, Schmiede, Stellmacherei, Gärtnerei, einem schlossähnlichen Herrenhaus. Aber alles leer! Ausgeräumt! Kein Rohr war mehr in der Brennerei, kaum ein Werkzeug in der Schmiede, im Schloss hier und da ein Haufen Lumpen. Wenn wir Zeit hatten, stöberten wir überall herum. Der Winter stand vor der Tür, wir brauchten Kleidung. Bewacht wurden wir nicht, aber man hatte uns alles verboten, vor allem uns vom Gutshof zu entfernen. Nach den ersten Erfahrungen, die wir im Ort gemacht hatten, taten wir's auch nicht. Wir wurden beschimpft und angefeindet. Pommern war nun Feindesland. Der Hass auf uns saß tief. Tag für Tag mussten wir Kartoffeln ausbuddeln. In der ersten Zeit waren sie auch unsere einzige Nahrung. Im Winter kam ein Liter Mehl für alle zwölf Jungen und etwas Brot dazu.

Als im nächsten Frühjahr die Küche im Schloss wieder eingerichtet wurde, besserte sich die Verpflegung. Arbeiter kamen, ganze Familien aus dem Osten Polens, deren Gebiet an Russland gefallen war. Also auch Vertriebene. Erst im Herbst 1946 erlaubte man uns Briefe zu schreiben. Wir hatten uns vor der Flucht eine Adresse von Verwandten in Mühlheim ausgemacht. Dorthin schrieb ich, und bekam bald Antwort von meiner Mutter aus Lohre. Hocherfreut zeigte ich den Jungen meinen Brief. Lohre!? Wo ist Lohre? Wie sieht es dort aus? Was ist das für eine Gegend, in der Mutter und Bruder nun leben? Wird es meine zweite Heimat werden? Ich war sehr gespannt! Länger als ein halbes Jahr musste ich noch warten. Dann am 17. Juni 1947 saß ich im Zug, kam aus dem Entlassungslager Quedlinburg, war in Kassel umgestiegen und hatte mich erkundigt: Nach Gensungen-Felsberg kommt Wabern. Ich stand am Fenster. Die Burg! Wie schön! Dann noch eine Raubritterburg!". Richtig romantisch kam mir alles vor! Dazu der Fluss, das Tal, der Wald. Und ich war frei! Zweieinhalb Jahre Elend überstanden! Viel Zeit nahm ich mir für den Weg über Niedermöllrich nach Lohre. Auf der Dorfstrasse kam mir eine Frau entgegen: Vesperkorb am Arm, Kaffeekanne in der Hand. "Guten Tag. Können sie mir sagen, wo Strack wohnt?" "Du bist der Alfred!", sagte sie. Es war Frau Strack. Die Freude bei der Begrüßung bei Mutter war riesengroß. Es gab viel zu erzählen. Später ihre Worte: "Wo mag Papa sein?", machten uns traurig.

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