Kalenderblatt April 2022

April 2022

Meine Kindheit in Wabern

von Petra Kauermann

Petra Kauermann, geb. Breuer - Jahrgang 1945 - hat mit ihren Eltern und ihrer Schwester ihre Kindheit in Wabern verbracht. Sie hat die Erinnerungen aus Ihrer Kindheit in einem kleinen Büchlein „Meine Kindheit in Nordhessen” niedergeschrieben. Sie wollte damit ihren Kindern und Enkelkindern davon erzählen, wie es damals war. Der Geschichts- und Kulturkreis hatte über eine Pressemitteilung in der heimischen Tageszeitung von diesem Buch erfahren und Petra Kauermann zu einer Lesung eingeladen. Seit dieser Zeit besteht ein enger Kontakt zu Ihr.

Petras Eltern waren in Kassel ausgebombt worden. Sie hatten 1943 in Uttershausen auf einem Bauernhof (Dickhaut) eine neue Bleibe gefunden. Im Jahr 1945 zog die Familie nach Wabern in das ehemalige inzwischen abgerissene Haus der Familie Meyfahrt (früher Schmiede Kahl). Hier wohnten sie mit drei weiteren Familien.

Die Erinnerungen von Petra Kauermann beginnen mit der Geburt ihrer Schwester Margot am 3.08.1948: „Das Häuschen mit dem Plumpsklo stand hinter dem Gebäude neben dem eigentlichen Bauernhof mit großer Miste. Ich fürchtete mich vor den Ratten, die sich dort tummelten, und hatte auch Angst, in das große Loch des Klos zu fallen. Statt Toilettenpapier benutzten wir in Rechtecke geschnittenes Zeitungspapier, das an einem Seil hing. Für die Nacht hatten wir einen Nachttopf, der morgens geleert wurde. Bei uns, wie bei vielen anderen Familien, gab es nur am Sonntag Fleisch. Meine Mutter ging mit mir Jeden Samstag zum Metzger Asmuss. Während sie einkaufte, setzte ich mich immer auf eine kleine Treppe, die zu den Privaträumen führte, und aß meine Scheibe Jagdwurst, die ich zuvor von der Metzgersfrau geschenkt bekommen hatte”.

Petras Vater, Rudi Breuer, fand in Wabern keine Arbeit. Lediglich während der Hauptbetriebszeit (Kampagne) arbeitete er in der Zuckerfabrik. Sie schreibt: „Ich erwähnte schon, dass Vater, um seine Familie zu ernähren, immer viel und überall arbeitete. Einige Kollegen aus der Zuckerfabrik, die ein Grundstück hatten, bauten in den frühen 50er Jahren ein Haus. Vater half ihnen und verdiente so immer was dazu. Auch wenn Nachbarn, Bekannte und Arbeitskollegen schlachteten, half Vater. Mit dem, was er von diesen Tätigkeiten mit nach Hause brachte, waren wir für Tage versorgt. Es gab die leckeren Schlenkerwürstchen, das waren Bratwürste, die mit einer Kordel zusammengebunden wurden. Der Geschmack war ein Traum! Außerdem gab es eine Milchkanne voll Wurstbrühe. Mutter kochte noch Nudeln hinein und wir hatten eine gute Suppe. Weiter gab es Wellfleisch, Speck und leckeres Weckewerk, zu dem wir Pellkartoffeln aßen. Weiter gab es Sulperknochen, mit denen wieder ein Mittagessen gesichert war. Sogar die Schwarte wurde gegessen. Alles, aber auch alles wurde verwertet. Vom Schlachten brachte mein Vater auch Flomen (das ist Bauchfett vom Schwein) mit, das im Topf ausgelassen, durchgesiebt, dann mit Zwiebeln und Äpfeln verfeinert wurde und über Nacht erkaltete. Es war ein köstlicher Brotaufstrich.

Ein Segen war, dass meine Eltern von der Gemeinde ein Stück Land bekamen und einen Nutzgarten anlegen konnten. So machten wir uns im Frühjahr und Sommer fast täglich auf den langen Weg zum Garten (auf der Thielepap’schen Spitze) ausgerüstet mit Gartengeräten, etwas zu essen und zu trinken, wobei die Getränke aus Himbeersaft mit Wasser und Essig bestanden. Mit Spaten und Rechen wurden dann Beete angelegt. Zwischen den Beeten trampelten wir einen kleinen Weg. Auf einem Stück Holz war eine Schnur aufgewickelt, die wir abrollten und über das Beet spannten. So hatten wir eine gerade Linie zum Säen. Der Samen kam dann in die (mit dem Rechenstil gezogene) Vertiefung und wurde mit Erde bedeckt. Oder es wurden Pflanzen gesetzt, zum Beispiel Kohlrabe, Weißkraut, Rotkraut, Porree und - ganz wichtig für uns - Salat und Tomatenpflanzen. Auch Bohnen und Erbsen wurden gesät und Früh- und Spätkartoffeln gepflanzt. Vie Arbeit machten uns die Kartoffelkäfer, die wir einzeln absammeln und in eine Blechdose warfen. Die letzte Ernte im Herbst waren die Kartoffeln. Das Schönste waren dann die Kartoffelfeuer (mit dem trockenen Kartoffelkraut) und die darin gerösteten Kartoffeln.

Häufig gingen wir zum Sportplatz, denn Vater und Onkel Reuter waren sehr fußballbegeistert. Auf dem Weg zum Sportplatz mussten wir die Bahngleise überqueren. Die Schranken wurden noch mit der Hand hinauf und heruntergedreht. Während die beiden Erwachsenen sich das Spiel anschauten, spielten wir Kinder Im nahe gelegenen Reiherwald und schaukelten an den großen Trauerweiden rund um den Reihersee. Sonntags waren wir immer schön angezogen, auch wenn wir wandern gingen. Die „Sonntagssachen” waren ein äußeres Zeichen, dafür, dass der Sonntag ein besonderer Tag war.

Wir Kinder hatten kaum Süßigkeiten. Mutter machte uns in der Pfanne aus Zucker, Butter und Milch Karamellbonbons. Vater brachte uns manchmal eine kleine 50 g-Tafel Schokolade mit, die ich mit meiner Schwester teilte. Wir hätten gern mehr davon gehabt. Wir gingen im Herbst in den Reiherwald um Eicheln und Kastanien zu sammeln, die wir zu einem Krämer im Dorf brachten, der Wildschweine und Rehe besaß. Der Krämer nahm das Futter dankend an und belohnte uns mit Süßigkeiten.

In den Wintermonaten hatten wir sehr viel Schnee. Zum Schlittenfahren liefen wir Kinder hinauf zum Hungerberg. Dort hatten wir eine lange Rodelbahn, die uns über die Straße nach Uttershausen fast bis zum Bahndamm führte (heute steht dort die Brücke der B 253). Wir rodelten oft so lange, bis es dunkel wurde und kamen mit knallroten Wangen und steifgefrorenen Hosenbeinen nach Hause. Es war einfach schön! Wenn meine Schwester und ich nicht draußen waren, spielten und bastelten wir in der Wohnung. Große Freude machten uns auch die Anziehpüppchen. Wenn wir mit Mutter in die Adler-Apotheke gingen, bekamen wir jedes Mal einen Bogen mit einer Puppe und der passenden Bekleidung dazu geschenkt. Zu Hause drückten wir die einzelnen Teile aus dem Papierbogen heraus uns konnten die Puppe nach unserer Fantasie anziehen. Im April 1952 wurde ich eingeschult. Das kleine Schulgebäude (heute Kindergarten) befand sich neben dem Bürgermeisteramt. Wir waren 28 Kinder. Nach einem Jahr wurden wir für kurze Zeit in einem anderen Gebäude im Wimmer unterrichtet. Dann in einem alten Schulgebäude neben unserer ev. Kirche, in dem es noch richtige alte Bänke mit Tintenfass gab. Der Kirchenvorplatz diente als Schulhof. Gegenüber befand sich die Metzgerei Gebhard (heute Wenghöfer), in der wir uns hin und wieder in der Pause für zehn Pfennig ein kleines Stück Kochwurst kauften. Gegenüber der Kirche befand sich auch der kleine Schreibwarenladen der Familie Oskar Mausolf. Die Inhaber sprachen Frankfurter Dialekt. In ihrem Laden konnten wir unseren Schulbedarf kaufen.

Ab dem vierten Schuljahr konnten wir uns zum Rübenvereinzeln melden, was ich bei Bauer Thielepape tat, der große Felder besaß. Wir rutschten auf Knien von einer Reihe zur anderen und zogen die kleinen Pflanzen (die in Büscheln standen) bis auf eine Rübenpflanze aus. Für eine Reihe bekamen wir 50 Pfennig. Das Geld sparte ich, und wenn ich genug zusammen hatte, kaufte ich mir etwas zum Anziehen oder ich ging mit meiner Schwester für 50 Pfennig am Sonntag ins Kino (Hühner). Wabern war kein „Kaff”, wie man so manches Dorf gern bezeichnet. Wir hatten ein Kurzwarengeschäft, ein Textilgeschäft, ein Lederwarengeschäft und zwei Schuhgeschäfte. Außerdem hatten wir auf der Bahnhofstraße eine neue Post, einen Möbelladen und ein kleines Kaufhaus sowie eine Molkerei, wo wir unseren Schichtkäse, Schmand und Kochkäse kauften. Es gab einen neuen Schreibwarenladen (Strube), in dem Vater seinen Tippschein abgab. Auf der anderen Seite des Ladens befand sich eine Gaststätte (Kahl), die ein Fernsehgerät hatte. Wir durften uns dort mit Vater 1954 ein Fußball-Länderspiel ansehen. Außerdem gab es in Wabern das neu erbaute Cafe Holzhauer. Wenn ich im Laden stand, um Brot zu kaufen, kam mir ein köstlicher Duft entgegen. Ein Gemisch aus Bohnenkaffee und Zigarren. Ich schaute sehnsüchtig jeder Cremschnitte hinterher, die man ins Cafe brachte. Ich kannte ja nur den nicht-duftenden „Linde’s“-Kaffee aus der Verpackung mit den weißen und blauen Punkten. Später gab es auch bei uns sonntags Bohnenkaffee.”

Da ihr Vater bei der Firma Bayer, Leverkusen, einen Arbeitsplatz gefunden hatte, zog die Familie 1957 in die Ruhrgebiet-Metropole. Petra Scheuermann ist ihren Eltern dankbar, für die schöne, abwechslungsreiche, trotz aller notwendiger Bescheidenheit, schöne Zeit in Wabern.

Zurück zur Kalenderseite