Kalenderblatt März 2022

März 2022

Wabern — Neue Heimat für Vertriebene - die Familie Hillebrand

Berichte vom Schicksal Heimatvertriebener aus Ostpreußen, dem Sudentenland, Schlesien und Südosteuropa, deren Flucht und Vertreibung, sowie deren Neuanfang in Wabern gehören zur guten Tradition in unseren Heimatkalendern (vgl. Blätter 09/2004, 08/2005, 03/2006 und 04/2006, 07/2007, 10/2008 und 11/2011).

Eine weitere interessante Lebensgeschichte dieser Art begann vor ungefähr 83 Jahren, mehr als 700 km weit von Wabern entfernt, im kleinen, 572 Einwohner zählenden Ort Grünfließ, 14 Kilometer nordöstlich von Neisse in Schlesien. Am 03. Januar 1938 kam dort Bruno Hillebrand als fünftes von insgesamt sieben Kindern von Bruno und Hedwig Hillebrand zur Welt. Vater Bruno betrieb eine Gastwirtschaft, ehe er wegen eines tödlichen Unfalls seines ältesten Bruders Alois den großen Gutshof übernehmen musste. Auf den ca. 110 ha, unmittelbar an den Hof angrenzenden, Ackerflächen wurden u.a. Weizen, Gerste, Kartoffeln, Futterrüben und Mohn angebaut. Neun Zugpferde standen für die Arbeit auf den Äckern und fünf Rappen für das Ziehen von zwei Kutschen und einem Schlitten bereit, kann sich Bruno noch gut erinnern. Auch war die Mechanisierung der Landwirtschaft bereits fortgeschritten und es befanden sich u.a. schon eine Mähmaschine und ein Bulldog (Ackerschlepper) der Marke Lanz im Eigentum der Familie. Ungefähr 10 Rinder, ein Zuchtbulle, 30 - 40 Kühe, 150 Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner, Gänse, Puten und zwei Jagdhunde waren der umfangreiche Tierbestand dieser Tage. Zwei Mägde und zwei Helfer, die sich vorwiegend um den Maschinenbestand kümmerten, waren fest angestellt sowie ein Schweizer welcher mit eigenem Milchwagen täglich die Milch abfuhr. Zur Erntezeit verstärkten bis zu 10 Tagelöhner die eigenen Arbeitskräfte. Diese bewohnten zusammen mit den anderen am Ort beschäftigten eine eigene Siedlung im Dorf. Etwas abseits an der Neisse sorgten die Wiesen des Hofes für das notwendige Heu und Fischteiche stellten zusätzliche Einnahmen durch Fischverkauf sicher.

Als Bruno sieben Jahre alt war veränderten sich sein Leben und das seiner Familie schlagartig. Im Februar 1945 musste er zusammen mit seiner schwangeren Mutter und vier Geschwistern auf der Flucht vor den herannahenden russischen Truppen Haus und Hof verlassen. Sein Vater, der als Treckführer (zur Begleitung der Flüchtlingstrecks) tätig war, und seine älteste Schwester Ursel blieben zurück. Die Hoffnung auf Rückkehr währte nur kurz. Die Flucht endete vorerst im Forsthaus in Neukirchen, am Traunsee gelegen, nahe der Stadt Gmunden in Österreich. Bruder Norbert, der dort geboren wurde, verstarb nach wenigen Tagen an Scharlach. Über Kassel - man kannte dort zwei Familien, welche nach der Zerstörung der Stadt von 1943 bis 1944 am Hof in Schlesien Unterbringung gefunden hatte - gelangte die Familie anschließend per Anordnung der Wohnungskommission des Kreises Fritzlar-Homberg nach Uttershausen, wo im Jahr 1946 auch die älteste Schwester wieder zur Familie fand. Leider mit der traurigen Nachricht, dass der Vater mit gerade einmal 45 Jahren auf der Flucht erschossen wurde. Während die älteren Geschwister in umliegende Gemeinden zogen, verbrachte Bruno mit seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester Inge seine frühe Jugend in Uttershausen und ging dort auch zur Schule. Ab 1953 absolvierte Bruno In einem Bürobedarfshandel in Kassel eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann. Im Jahr 1956 ging er zur Bundeswehr, erst nach Kassel zur Ausbildung, dann nach Gießen, Sonthofen im Allgäu, Dillingen an der Donau, Bergzabern (Südliche Weinstraße) und schließlich Fritzlar. Insgesamt 12 Jahre, was ursprünglich gar nicht so geplant war, als Fernmeldeoffizier. Bereits vor seiner Zeit beim Militär hatte er Gerlinde Rummel über seine Messdienerschaft in der katholischen Kirche in Wabern kennengelernt. Die Familie Rummel, vertrieben aus dem Kreis Hohenelbe im Sudetenland, hatte zum Teil ebenfalls in Wabern neue Heimat gefunden. Am Pfingstwochenende 1961, am 20. Mai, wurde in der katholischen Kirche in Wabern Hochzeit gefeiert. Diese, dem heiligen Wigbert geweiht, war erst zwei Jahre zuvor neu erbaut worden. Gefeiert wurde im Wohnzimmer der Familie Rummel in der Rosenstraße, wo das Junge Paar auch zeitweise wohnte. Danach dann in der Frankfurter Straße, ehe im Jahr 1965 schließlich der Kauf eines Grundstückes in den Zennerwiesen erfolgte. Von Mai bis Dezember - noch im selben Jahr - wurde das neue Zuhause der Hillebrands erbaut, heute Wildunger Str. 3. Damals normal: Alles, was ging, wurde in Eigenleistung gemacht und so erinnert Bruno sich, wie man auf dem Gelände der Firma Homburg die Sockelsteine für den Neubau eigenhändig gestampft hat.

Nachwuchs hatte sich bereits vor dem Bau eingestellt. Den Töchtern Susann *1961 und Martina *1962 folgte Sohn Bernd *1964. Als Jüngstes Kind erblickte Tochter Christina im Jahr 1967 das Licht der Welt. Ein Jahr später begann Bruno seine Laufbahn als Finanzbeamter im Finanzamt der Kreisstadt Homberg und von 1975, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1992, in Fritzlar. Mit im Haus lebte ab 1980 Schwiegermutter Hermine, die nach einem Schlaganfall bis zu ihrem Tode im Jahr 1991, 11 Jahre von Gerlinde und Bruno aufopferungsvoll gepflegt wurde. Im Jahr 1996 verstarb auch seine Mutter, die in Uttershausen zusammen mit seiner jüngsten Schwester bereits im Jahr 1968 ein eigenes Haus gebaut hatte.

Der Kirche blieb Bruno sein ganzes Leben treu. Herauszuheben ist seine dreißigjährige Tätigkeit als Küster und seine Arbeit im Pfarrverwaltungs- und Pfarrgemeinderat. Im Jahr 1980 war er als Gründungsmitglied dabei, als die Kolpingsfamilie in Wabern gegründet wurde. Am 10. September 2017 verstarb überraschend seine Frau Gerlinde im 78. Lebensjahr. Diesen schweren Schicksalschlag teilt er, außer mit seinen vier Kindern und deren Partnern, mit 12 Enkel- und mittlerweile 4 Urenkelkindern.

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