Johann Georg Gerhold (*1867 +1944) — Ein Lehrerleben
Zwischen den Jahren 1867 und 1944 liegt das Lehrerleben des Johann Georg Gerhold. Während seines Ru- hestandes schreibt er für seine Kinder und Enkelkinder seinen Lebenslauf. Sein Enkel Heinz Vonjahr hat aus diesen Aufzeichnungen ausgewählt, was im zeittypisch erschien und ein Licht wirft auf die Lebensumstände einer nordhessischen Lehrerfamilie in den Jahrzehnten zwischen den Gründerjahren und dem Dritten Reich. Johann Georg Gerhold wird am 28.11.1867 in Nothfelden, heute Stadtteil von Wolfhagen, geboren. Später erzählt man ihm, am gleichen Tage habe eine ganze Familie aus dem Dorf die Auswanderungsreise nach Amerika angetreten. Eine seiner frühesten Eindrücke hängt mit dem deutsch-französischen Krieg zusammen: "Ich weiß, dass unsere Haustür weit geöffnet war und die ein- und ausgehenden Leute weinten, auch wurde in der Schulstube Charpie gezupft". Charpie (zerzupfen) diente als Verbandmaterial, denn Verbandsmull war noch nicht erfunden. Sie wurde gewonnen, indem man alte Leinenwäsche auseinanderzupfte.
Klein Georg wächst in die bäuerliche Lebenswelt eines kleinen Dorfes hinein. Der Vater ist zwar Lehrer, aber von seinem Gehalt allein kann die Familie nicht leben. Deshalb ist er auch Landwirt, mit mehreren Kühen, Schweinen und anderen Tieren. Die Kinder des Schulmeisters werden von klein auf bei den landwirtschaft- lichen Arbeiten mit eingespannt. Für die Schule müssen sie dann in der arbeitsfreien Zeit lernen. Wenn es nicht klappen will, hilft der Vater mit dem Stock nach.
Als Georg elf Jahre alt ist, erhält der Vater die Lehrerstelle in Zennern. Georg besucht zwei Jahre lang die Lateinschule in Fritzlar und wechselt von da zur Vorpräparanden — und Präparandenschule in Homberg. Das ist sein Einstieg in die Ausbildung zum Volksschullehrer. Er absolviert sie im Dillenburger Seminar. Im Herbst 1888 besteht Georg Gerhold das erste Lehrerexamen. Ihm wird die Fähigkeit zuerkannt, Kinder in der Volksschule zu unterrichten. In der heimatlichen Provinz Hessen-Nassau gibt es Jedoch keine freie Lehrerstelle. Aber Preußen ist groß. Im Osten des Reiches werden dem jungen Lehrer Arbeitsmöglichkeiten angeboten. Georg tritt am 1.12.1888 seinen Dienst in einem Dorf im Regierungsbezirk Oppeln, nahe der preußisch- russischen Grenze, an. Da es sich um ehemaliges polnisches Gebiet handelt, sind die meisten Bewohner nur der polnischen Sprache mächtig. In den preußischen Schulen müssen alle Deutsch lernen. Das fällt ihnen verständlicherweise schwer. Deshalb erhalten die Lehrer eine "Germanisationszulage". Trotz dieser Zulage ermöglicht das Gehalt eines Junglehrers nur eine bescheidene Lebensführung. Sein Gehalt beträgt 62,50 Mark monatlich. Es bleibt manchmal monatelang aus, weil die Gemeindekasse leer ist. Er wohnt in der Wohnung des Schulleiters in einem Zimmer unter dem Dach, das er sich mit dem ältesten Sohn des Hauptlehrers teilen muss.
Im Oktober 1891 besteht Gerhold die zweite Lehrerprüfung und wird fest angestellt. Nun zieht es ihn wieder in die nähere Heimat. Am 1. Mai 1892 übernimmt er eine freie Lehrerstelle in einem Dorf im Kreis Schlüchtern.
Die Lebensverhältnisse in Dorf schildert der Chronist anschaulich: "Das Dorf selbst war ein Rhöndorf jener Zeit, schmutzig und ungepflegt. Der größte Teil der Bewohner ging auswärts, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Als Drescher gingen sie vom Frühjahr bis Weihnachten ins Unterland. Nach der Ernte bildeten 3 Männer eine Dreschergruppe. Mit schweren Dreschflegeln wurde die Getreideernte im Kinzig- und Maintal ausgedroschen. Mit gutem Verdienst kamen sie vor Weihnachten zurück. Nun war Holzhauen und Waldarbeiten ihre Beschäftigung. Andere fertigten auch Holzschuhe an, die von Groß und Klein getragen wurden, wieder andere banden Birkenreisig zu Besen. In den Haushaltungen, in denen die Männer im Sommer fehlten, mussten die Frauen die Feldarbeit besorgen. Im Winter wurde gesponnen. Willkommenes Zubrot war die Wilderei".
Von 1896 an wirkte Georg Gerhold als Lehrer in Wabern. Ab Herbst 1897 erhält er ein jährliches Gehalt von 1.550 Mark. Mit dieser finanziellen Absicherung beschließt er eine Familie zu gründen. 1898 heiratet er nach kurzer Verlobungszeit eine Freundin seiner Schwester, Käthe Lange aus Fritzlar. In Wabern wird der Lehrer Gerhold offenbar geschätzt. Der Darlehnskassenverein überträgt ihm im Jahr 1900 die Führung seiner Kassengeschäfte.
Bei seinen Vorgesetzten aber eckt er an, weil er sich nicht in seine Familienangelegenheiten hineinreden lassen will. Unmittelbarer Vorgesetzter der Lehrer ist der Ortspfarrer, der als Schulinspektor die Obrigkeit vertritt. Der Waberner Pfarrer (vermutlich Johann Friedrich Otto Kröger) nahm Anstoß daran, dass der evan- gelische Lehrer seine Töchter in eine katholische Schule, das Lyzeum der Ursulinerinnen in Fritzlar, schickt. Der Vertreter der evangelischen Kirche erbot sich, so Gerhold in seinen Aufzeichnungen, "dass ich mein Recht beim Kulturministerium suchen musste. Ich fand mein Recht, aber die Herren Geistlichen hatte ich mir auf den Hals geladen. In der Folgezeit musste ich erleben, dass sogar die Herrn Pfarrer ihr Töchter ins Kloster schickten. Ja, wenn zwei dasselbe tun, so ist es noch lange nicht dasselbe".
Als es im Lehrerkollegium in Wabern zu Unfrieden kommt, wird allen Lehrern empfohlen, sich um andere Stellen zu bemühen. Gerhold zieht es am 1. Mai 1912 ins benachbarte Udenborn. Hier verbessert sich seine finanzielle Situation. Neben seiner Lehrertätigkeit bewirtschaftet er hier fünf Morgen Land. Auch der Kirchendienst als Organist und Lektor bringt eine zusätzlich Mark. Im Jahr 1913 wird das neue Schulgebäude eingeweiht. Die Dienstwohnung hat einen besonderen Komfort, das Klosett im Haus (jedoch ohne Wasserspülung). Gerhold schreibt, dass er nach Aussage des Landratsamtes Udenborn das schönste Schulhaus im Kreis hatte.
Die glücklichen Jahre enden mit Beginn des 1. Weltkrieges. Die Landwirtschaft ermöglicht es Gerhold, die Kinder der Verwandtschaft von Berlin nach Udenborn zu holen. Mit der Dauer des Krieges wurde aber auch die Verpflegung auf dem Dorfe knapper. Er schreibt: "wir auf dem Dorfe konnten uns immer noch satt essen. Allerdings wird sogar dort die Steckrübe zum Hauptnahrungsmittel".
"Der Krieg ging vorüber", so Gerhold, "und nun kam die traurige Zeit der Inflation. Täglich wurde der Wert des Geldes geringer. Alle 8 Tage wurde Gehalt bezahlt. Dann musste man sich beeilen, das Geld wertbeständig zu verwenden".
Die weiteren Ausführungen von Georg Gerhold, trotz der einschneidenden Zeitereignisse, beziehen sich nur auf die Begebenheiten in der Familie. Die Geburt der Enkel wird freudig kommentiert, die Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht erwähnt. Seine Schaffenskraft wird Jedoch durch eine chronische Erkrankung und den Selbstmord seiner Tochter sehr beeinträchtigt. Er geht daher zum 1. Oktober 1931 in vorzeitige Pension. Da er die Lehrerwohnung In Udenborn für seinen Nachfolger räumen muss, zieht die Familie nach Kassel. Sein Steckenpferd wird ein Schrebergarten und Wanderungen in die umliegenden Mittelgebirgslandschaften.
Zwei Jahre nach seinem 70. Geburtstag beginnt der 2. Weltkrieg. Der 72-Jährige muss Bürden übernehmen, für die er kaum noch Kraft genug hat. Er fühlt sich verantwortlich für die Enkel, deren Vater im Krieg ist. Er bessert die kargen Lebensmittelzuteilungen durch seine Gartenerzeugnisse aus. Die häufigen Fliegeralarme, fehlende Nachtruhe und Ausbombung zerren an seinen Nerven. Nach der Zerstörung Kassels im Oktober 1943 wird die Familie nach Kleinalmerode evakuiert. In beengten Wohnverhältnissen, ohne die gewohnte Ordnung, kann sich der gebrochene alte Mann nicht mehr eingewöhnen. Am 6. Januar 1944 nimmt sich Georg Gerhold das Leben.