Kalenderblatt April 2020

April 2020

Ich bin ein Rähling (von Walter Schomberg)

Ich bin ein echter Rähling, im Jahre 1948 in Wabern geboren. Ich bin der Sohn von Karl Schomberg (*1921 +2004) und Viktoria, genannt Dora, Schomberg (*1925 +2015). Mein Geburtshaus war auf dem Gelände des Jugendheimes Karlshofs, das Angestelltenhaus, an der Kurfürstenstraße, das inzwischen abgerissen worden ist. Gewohnt habe ich dann später mit meinen Eltern im Marstallgebäude (1). Nach einer gründlichen und kostspieligen Renovierung sind dort heute die Klassenräume der Schlossbergschule eingerichtet.

Ich erinnere mich noch an den großen gepflegten Schlosspark, in dem ich mit dem Dreirad oder dem Roller herumfahren konnte. In dieser Zeit spielten Autos noch keine große Rolle. Auf der Kurfürstenstraße, die am „Anstaltsgelände“ entlang führt, fuhr nur sporadisch mal ein Fahrzeug. Manchmal aber war richtig was los, wenn amerikanische Kolonnen mit Panzern und Räderfahrzeugen durch die Kurfürstenstraße fuhren, dann standen wir am Straßenrand und riefen so etwas wie „Schuinggam“, wie wir es von den Großen gehört hatten. Der „Park“, das baumbestandene Areal hinter dem Direktorhaus war mein Spielplatz. Ich erinnere mich an einen riesigen Baum mitten im Park, der eine tiefe Wunde hatte. Angeblich hatten amerikanische Soldaten an jenem Baum eine Handgranate gezündet. So hatte es mir mein Opa Kurt (Konrad Schomberg *1895 +1986) erzählt. Er war Schneidermeister und Erzieher im Karlshof, geboren in den Trenton/USA, weil seine Eltern im Jahre 1890 mit der ganzen Sippe ausgewandert waren, später aber wieder zurückkehrten.

Seine Werkstatt war unter unserer Wohnung, so dass ich es nicht weit hatte, wenn ich ihn besuchen wollte. Und dann war da noch der „Onkel“ Heckeroth, nebenan in der Werkstatt. Auch den habe ich regelmäßig besucht. Er war der Schuhmachermeister und er hatte eine wunderbare Eigenschaft: Er konnte alles reparieren, was einem Sechsjährigen so im Laufe des Tages kaputt ging. Er klebte alles mit Schusterpech! Und so wuchs ich in einer recht behüteten naturnahen Umgebung auf.

Eingeschult wurde ich noch im Kindergarten am Bürgermeisteramt, die nach dem Krieg zu einer zweiklassigen Schule umgestaltet worden war und die heute wieder Kindergarten ist. Lehrer Albert Rotter, für viele Zeitgenossen sicher noch ein Begriff, übernahm unsere Erste Klasse, in der er über 50 Kinder zu unterrichten hatte. Doch es ging in dieser Klasse leiser zu als heute bei wesentlich weniger Kindern. Am 27. Mai 1956 zog die Schulgemeinde in die neu erbaute, damals noch einstöckige Reiherwaldschule, um.

Dank meines grünen Tretrollers mit Ballonreifen erweiterte sich mein Radius auf das ganze Dorf. Oft ging es auf die „Schnarrecke“, die Frankfurter Straße, da wohnte mein Patenonkel, Heinrich Koch (*1911 +1980), für mich einfach der „Patte“. Auch einige Klassenkameraden wohnten dort und schnell hatten wir uns auch ohne WhatsApp verabredet. Auch an der Schwalm war ich schnell, über den beschrankten Bahnübergang am Sportplatz und Reihersee vorbei über die Schwalmwiesen, bis zum Fluss, der unserem heutigen Kreis auch seinen Namen gibt. Am Fluss gab es westlich der Schwalmbrücke, über die die B254 führt, eine kleine Badebucht, die sogenannte Platte. Unser Albert Rotter war mit uns dort zum Schwimmunterricht. Heute ohne anwesende „Rettungsbrigade“ völlig unvorstellbar.

Der Reihersee, hatte damals noch solche Ausmaße, dass man im Winter darauf Schlittschuh laufen konnte. Auch Opa Kurt ließ sich diesen Spaß nicht nehmen und drehte seine Runden. Wir Kinder spielten Eishockey, natürlich die meisten ohne Schlittschuhe.

Die kalte Eder war als Badegelegenheit weniger beliebt. Dort ist auch das ehemalige Kurfürstenbad.Ich habe die Bodenkacheln noch gesehen. Heute ist der Bereich im Naturschutzgebiet zugewachsen und verlandet. In den Jahren galt es als Mutprobe, in die 14 Grad kalte Eder zu gehen und sich ein Stück sich mit dem Strom treiben zu lassen. Irgendwann gab es dann die ersten Kiesteiche an der Eder. Darin war das Wasser warm und lud zum Baden ein, besonders am Wochenende, wenn dort nicht gearbeitet wurde und uns keiner verscheuchen konnte, denn das Baden in diesen Teichen war offiziell verboten.

Ein interessantes Ziel war die Zuckerfabrik, besonders während der Kampagne, die ging damals viel länger als heute. Dann war im Ort richtig was los, wenn freie Anlieferung war, denn alle mussten mitten durchs Dorf. Der ganze Ort stand dann voller Rübenfahrzeuge. Interessant für uns Jungs war dann immer die enge Kurve am heutigen Bürgermeisteramt. Mancher Landwirt war etwas flott unterwegs und schon kullerten einige Rüben auf die Straße. Dann hieß es schnell sein, denn darauf warteten immer einige Interessenten. Schnell die Rüben auflesen und ab damit zum Patte, der hatte nämlich noch zwei Schweinchen im Stall, dann gab es für mich ein schönes Stück Ahle Wurst — für uns Nicht-Schweine-Besitzer was ganz besonderes.

Auch die Zuckerfabrik selbst war lohnendes Ziel und ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals dort fortgeschickt wurde. Wagen um Wagen fuhr auf die Entladung. Erst wurde mit einem Greifer eine Rübenprobe vom Wagen genommen, dann wurde er schräg angehoben und die Rüben purzelten in den Rübenbunker. Da konnte ich stundenlang zusehen. Zwischendurch bei den Schlammteichen schauen, über denen bei kaltem Wetter eine geheimnisvolle Nebelschicht lag.

Der nächste Brennpunkt der Rübenkampagne war die Überfahrt über die Eisenbahnbrücke. Gepflastert mit Graubasalt war die Strecke bei feuchter Witterung so rutschig, dass mancher Trecker wegen geringer Zugkraft nicht hoch kam und erst mal einen Hänger zurücklassen musste.

Wer erinnert sich noch an die Aufregung über die „Stelzenstraße“ die über Wabern geführt werden sollte. Die Verkehrssituation wurde immer dramatischer. Eine „Stelzenstraße“, was ist das denn? Na, das Ding das heute über den Bahnhof führt und inzwischen so alt ist, dass es grundsaniert werden musste.

Auch an den Frankfurter Wecker kann ich mich noch erinnern, der einmal aus der Mehrzweckhalle ausgestrahlt wurde. Heinz Schenk meinte damals, er sei wegen der vielen Baustellen dreimal um Wabern herumgefahren, bis er endlich den Weg zur Halle gefunden hatte.

Der Reiherwald hatte damals etwas über 200 Bäume in drei Reihen, mehr nicht. Er wurde von den Schafen von Schäfer Engelhardt immer schön sauber gehalten. Es war schön da, aber ein Wald ist das nicht. Wenn wir als Familie in den Wald wollten, fuhren wir mit den Fahrrädern ins Oberste Holz, oberhalb von Niedermöllrich, da wurden dann Heidelbeeren gepflückt. Das Spazierengehen war damals noch nicht erfunden.

Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass Wabern eine der ersten „Diskotheken“ im Kreis hatte, das Cafe Schneider. Das Tanzlokal lag direkt neben der Schule. War noch nichts für mich, ich war noch zu jung, aber die Musik habe ich gehört, denn das Grundstück meiner Eltern grenzte direkt an das Restaurant.

(1) Die eigentliche Orangerie wurde im Jahre 1823 zu einem Marstall — für 29 Pferde — umgebaut. Nachdem das Schloss mit seinen Nebengebäuden im Jahre 1886 in den Besitz des Preußischen Ministeriums des Inneren überging und dort eine staatliche Erziehungs- und Besserungsanstalt eingerichtet war, wurde später der Marstall für Wohnzwecke umgestaltet.

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