Kalenderblatt Oktober 2019

Oktober 2019

FAKE NEWS ANNO 1822 - SELBSTMORD VON PFARRER WERNER

Als Fake News definiert der Rechtschreibduden in „manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen". Ob das, was die in Stuttgart erschienene Neckarzeitung in ihrer Ausgabe Nr. 173 vom 26. Juni 1822 veröffentlichte absichtlich manipulieren wollte bleibt dahin gestellt, wurde ihr aber vorgeworfen. Eine Falschmeldung war es in jedem Falle. Der Artikel lautete wie folgt:

Zu Wabern, einem drei Stunden von dieser Residenz (Stuttgart!) entlegenen Orte, trug sich kürzlich das in seiner Art unerhörte Ereignis zu, daß ein Pfarrer auf der Kanzel durch einen Pistolenschuß seinem Leben freiwillig ein Ende machte. Ohne Zweifel lagen die Beweggründe dieser seltsamen Handlung in einer Geisteszerrüttung wohin die an dem Unglücklichen schon seit längerer Zeit bemerkliche mystische Tendenz ihn mochte geführt haben. Derselbe vollbrachte die selbstmörderische That, als die Gemeinde den Schlußvers des Liedes Nro. 293 im kurhessischen Gesangbuche anstimmte, dessen Inhalt er, in seinem schwärmischen Wahn, wahrscheinlich auf sein Vorhaben bezog.

Gemeint konnte nur der Pfarrer Ludwig Werner sein, der seit dem Jahre 1818 die Pfarrstelle in Wabern innehatte. Da dieser sich jedoch noch Mitten im Leben sah, schrieb er wohl einen deftigen Brief an die Neckar Zeitung, die daraufhin ihn der Ausgabe Nr.l88 einen Widerruf wie folgt veröffentlichte:

Noch eine Reklamation ist uns eingesendet worden. In Nro. 173 steht ein Korrespondenz-Artikel aus Kurhessen vom 20. Jun., worin unter anderem gemeldet wird, daß sich zu Wabern ein Geistlicher auf der Kanzel erschossen habe. Wir erhalten so eben ein Schreiben des Predigers Werner zu Wabern, worin erklärt wird, dass die erzählte Anekdote weder zu Wabern noch an irgend einem Orte jener Gegend sich zugetragen habe. Es freut uns, wenn an der Sache nichts ist, und wir nehmen deshalb diese Berichtigung gerne auf. Wenn aber der Herr Prediger Werner, nach Inhalt seines Schreibens, dafür hält, daß diese Geschichte in der Absicht erfunden und verbreitet worden sey, den geistlichen Stand herabzuwürdigen, so können wir eine solche irrige Ansicht blos bedauern, halten aber nicht der Mühe werth, sie zu widerlegen. Wer die Tendenz dieser Blätter gehörig zu würdigen weiß, wird finden, daß wir gerne alle Stände der Staatsgesellschaft im Genusse derjenigen Wirksamkeit und Achtung sehen möchten, die jedem Stande gebührt. Wenn aber irgend ein Stand der ihm gebührenden Achtung hie und da ermangelt, so mag er den Grund davon theils in seiner fehlerhaften Organisation, theils in dem Benehmen seiner einzelnen Mitglieder suchen. Ehre und Schande hängt nicht von der Einwirkung äusserer Umstände ab. Wenn uns endlich der Herr Pfarrer Werner im Imperativ auffordert, seinen Brief in die Neckarzeitung aufzunehmen, wo nicht, so werde er in andern süddeutschen Blättern erscheinen, so erwiedern wir ihm, daß wir die Publicität nie gefürchtet haben und noch nicht fürchten. Seinen Brief aber nehmen wir nicht auf, und wollen ihn nicht aufnehmen, 1) weil er in einem unanständigem Tone abgefaßt ist, und 2) weil wir wohl jeder billigen Bitte Gehör schenken, aber durch Drohungen uns noch nie etwas entreißen ließen. (Beilage zur Neckarzeitung Nro. 188 vom 11 Juli 1822).

Nicht nur vom Betroffenem selbst kam Kritik. Einen Monat später stand wiederum zum selben Thema zu lesen: Die hiesige Geistlichkeit hat es dem Korrespondenten der Neckarzeitung sehr übel genommen, daß er den Pfarrer Werner in dem nicht 3 sondern 6 Stunden von hier entfernten Dorfe Wabern sich auf der Kanzel hat erschössen lassen. Das Ministerium, sagt man, hat auf Ansuchen des Konsistoriums nach Stuttgart geschrieben, um die Nennung des Korrespondenten zu verlangen und denselbigen zur gebührenden Strafe zu ziehen. Während der Pfarrer Werner in Wabern noch frisch und gesund beim Leben ist, hat sich aber der würdige rechtschaffene Pfarrer Groß zu Eschwege wegen einer erlittenen harten Kränkung wirklich todgeschossen. (Nro.218 vom 10 August 1822).

Dass die Falschmeldung weite Kreise zog und auch Eingang in die Casseler Zeitung und in Kirchenzeitungen fand belegen Ausführungen in der Veröffentlichung "Uber die allgemeine Kirchenzeitung des Herrn Hofpredigers Dr. Zimmermann in Darmstadt, wohlgemeynte Bemerkungen von einem katholischen Theologen". Augsburg 1823, Seite 35 f., wie folgt: Ich gesteh, daß ich nicht ohne Entseizen die Berichtigung las, welche der Pfarrer Werner zu Wabern in die Casseler allgemeine Zeitung einrücken ließ. Es wurde in der Neckarzeitung ausgestreut, und in der Kirchenzeitung weiter verbreitet, daß ein Pfarrer in Wabern sich auf der Kanzel durch einen Pistolenschuß getötet habe, und zwar gerade, als seine Gemeinde den Schlußvers des Liedes Nro. 293 anstimmte. Geisteszerrüttung aus einer mystischen Tendenz sollte Ursache des Selbstmorde gewesen seyn. Von dieser mit so vielen Umständen aufgestutzten Erzählung war kein Wort wahr. Aber wahr ist es, was der an seiner Ehre gekränkte Pfarrer schrieb: "Eine Zeitung, die der Unzuverläßigkeit ihrer Korrespondenten zu viel traut, werde zu einem Lügen- und Mährchenjournal herabgewürdigt, und müsse allen Kredit verlieren, was noch mehr von einer Kirchenzeitung gilt.

Der Autor erklärt seine Entrüstung bereits im Absatz davor wie folgt: Ich habe schon oben bemerkt, daß gemeine politische Zeitungen viel Unsicheres, ja Falsches berichten, was sie bald zu widerrufen Ursache haben. Ihnen liegt es nur daran, recht viel Neues, und recht frühe auftischen zu können. Das neugierige Publikum will Neuigkeiten, und alle Tage etwas anderes lesen. Man nimmt es daher einem Zeitungsschreiber nicht übel, wenn er auch öfters wiederrufen muß. Allein eine Kirchenzeitung soll, wie ich ebenfalls schon oben bemerkt habe, mit größerer Würde auftreten. Man verlangt von ihr nicht alle Tage etwas Neues; aber wenn sie Nachrichten giebt, sollen es geprüfte, und so viel möglich zuverläßliche seyn; denn durch falsche Ausstreuungen werden nicht nur einzelne Geistliche um ihre Ehre gebracht, und in ihrer Amtswirksamkeit gestört, sondern ganze Religionsgemeinschaften vordem Publikum beschimpft.

Der Lebensdauer von Herrn Pfarrer Werner scheint die Falschmeldung nicht schlecht bekommen zu sein. Er wirkte noch bis 1861 in Wabern.

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