Kalenderblatt Februar 2018

Die Gesellschaftsmoral im Jahr 1811

Bei der Zusammenstellung der meist nüchternen kirchlichen Eintragungen ist der Verfasser des Ortsfamilienbuches Wabern auf manche Besonderheit, die früher im Dorf für große Aufmerksamkeit gesorgt hat, gestoßen. Sie lassen aber auch den Zeitgeist erkennen, der damals vorherrschte. Hierbei handelt es sich um einen im Jahre 1752 geborenen Ackermann, der gleichzeitig Kirchenältester war. Aus den "Presbyterial-Protokollen" von Wabern wurden die nachfolgenden Aktenvermerke der damaligen Pfarrer Waldschmidt und Werner entnommen.

Wabern am 29. April 1811

"Dato erschien auf vorhergegangene Einladung Anna Catharina Waldmann aus Gombeth, welche dermahlen (zurzeit) bey dem hiesigen Kirchenältesten als Magd dienet, und bekannte ihre Schwangerschaft. Zum Thäter derselben gab sie einen unbekannten Mann an, der sie auf dem Wege von Lohne nach Fritzlar in der Nacht angegriffen und zu Fall gebracht habe.

Wabern am 20. November 1811

An diesem monatlichen Bettage wurde zwar nichts angezeiget. Es kam aber doch nachher auf dem Wege nach Zennern, außerhalb des Dorfes der Kirchenälteste zu mir und sagte: Er hätte von dem Kirchenältesten Johann Henrich Witzel gehört, daß ich über ihn unwillig wäre, weil er seine Magd Anna Catharina W., nachdem sie ihr Wochenbett zu Gombet gehalten, wieder sammt dem Kinde bey sich genommen habe. Ich erklärte ihm hierauf: Ich müßte gestehen, daß mir sein Betragen in diesem Stück mißfiele, in dem er sich dadurch eines unerlaubten Umgang mit einer Dirne verdächtig machte und sich auf solche Art bey der Gemeine in einen übelen Ruf setze, welches am wenigsten von einem Kirchenältesten geduldet werden könnte; er müßte daher entweder die Magd aus seinem Hauße wegschaffen oder sein Kirchenältesten Amt niederlegen. Allein er erwiederte, daß er diese Magd nicht entbehren könnte weil sie ihm die Haußhaltung so gut führte, und zu dem anderen wollte er sich auch nicht verstehen, worauf wir von einander schieden.

Wabern am 18. December 1811 (Auszug)

Der Wittwer und Kirchenältester wird erneut aufgefordert, die Dirne, seine Magd, aus seinem Haus zu entfernen oder sein Kirchenältesten Amt aufzugeben. Er gab aber weder auf das Eine noch auf das Andere eine befriedigende Erklärung.

Wabern 18. März 1812

Dato ein monatlicher Beitag und nach dem Gottesdienst das gewöhnliche Presbyterium. Der Kirchenälteste Johann Henrich Witzel zeigte mir hier an, dass ihm besagter Kirchenältester gesagt haben: er habe sich nunmehr entschloßen sein Kircheältesten-Amt aufzugeben; er möchte mir daher dieses bekannt machen.

Wabern 14. October 1826

Erschien vor meinem Krankenbett der hiesige Einwohner und Wittwer und ehemalige Kirchenältester und dessen Haushälterin Anna Catharina W., gebürtig vom Gombeth, welche anzeigten, daß sie eine Sünde auf sich hätten, welche sie jetzt bekennen vor mir ihre Reu darüber bezeugen wollten: Die Anna Catharina erörterte nun, daß sie im Jahre 1811 in Unpflichten schwanger gewesen sey und zum Thäter ihrer Schwangerschaft einen unbekannten Mann, der sich auf dem Wege zwischen Lohne und Fritzlar angegriffen und zu Fall gebracht, angegeben habe. Dieses sey aber ein erzwungenes falsches Vorgeben und völlig grundlos gewesen. Der wahre Thäter ihrer Schwangerschaft und Vater ihrer noch lebenden unehelichen Tochter sey der gegenwärtige hiesige Einwohner und Wittwer (der ehemalige Kirchenälteste). Dieser gestand hierauf die That ein und bekannte sich zum Vater der erwähnten unehelichen Tochter Martha Elisabeth. Beide ersuchten mich hierauf, ihnen die Buße abzunehmen.

Gez. Pfarrer Werner

So hatte sich nach ca. 15 Jahren die Wahrheit doch noch durchgesetzt. Nachdenklich macht die einseitige Verurteilung der Frau, die damals als "Dirne" beschimpft , bestraft und gesellschaftlich verachtet wurde, während der Erzeuger kaum Nachteile zu befürchten hatte. Dieser Vorfall war in der damaligen Zeit sicherlich kein Einzelfall.

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