Die Straße "Vor den Erlen" - Erinnerungen von Elisabeth Frisch
Seit April 1940 war ich bei der Landesbauernschaft, der späteren Land- und Forstwirtschaftskammer, in Kassel beschäftigt. Bei den entsetzlichen Bombenangriffen am 22./23. Oktober 1943, bei denen Kassel weitgehend zerstört wurde, war auch unsere Dienststelle betroffen. Auf Vermittlung des Aufsichtsratsmitgliedes Wilhelm Röver sen., aus Niedermöllrich, fand die Landesbauernschaft in Karlshof in Wabern ein neues Domizil. Die Verwaltung, die Abteilungen der Tierzucht, die Bauabteilung und die Rechtsabteilung bezogen die erste Etage im Schloss.
Der spätere Landrat, Hoch- und Tiefbauingenieur August Franke, der schwer verwundet aus dem Krieg gekommen war, übernahm die Bauabteilung. Er bemühte sich sehr darum, dass die Angestellten der Behörde, die überwiegend in Wabern und den umliegenden Dörfern notdürftig untergekommen waren, wieder einigermaßen wohnen konnten, ein Dach über dem Kopf hatten.
Aus dieser Überlegung heraus, entstand am Rand von Wabern, in der heutigen Straße "Vor den Erlen" eine Behelfsheim-Siedlung. Die Grundstücke gehörten dem Landeswohlfahrtsverband.
Die erste Straße wurde von polnischen und russischen Mädchen errichtet. Die Kriegsgefangenen waren in einer Baracke auf dem Grundstück der ehemaligen "Froschpitsche", heute Grundstück Kurfürstenstraße 10, untergebracht.
Die Straße war vergleichbar mit einem befestigten Feldweg. In Zusammenarbeit mit der Hessischen Heimat in Kassel entstanden vier Häuser aus Mauerwerk und fünf Holzhäuser.
Ich kann mich noch erinnern, dass mein Vater (Andreas Römer) Schwierigkeiten mit der Hessischen Heimat hatte. Er wollte das mit Lehmsteinen gemauerte Fachwerkhaus nicht mit Holz verkleiden, sondern verputzen. Auch wollte er das vorhandene Schleppdach anders ausbauen. Es wurde nicht genehmigt.
Alle Häuser sollten einheitlich aussehen. Sie mussten alle mit Brettern aus polnischer Kiefer verkleidet werden. Das machte eine regelmäßige Erneuerung des Schutzanstrichs notwendig.
Bei der Materialbeschaffung gab es in den Jahren 1944 bis 1946 große Schwierigkeiten. Mit Mühe und großem Organisationstalent hatte mein Vater von der Firma Amrhein aus Jesberg die Balken für das Dach bekommen. Nach Ostern 1945 sollte gerichtet werden. Die Freude war nur kurz. Das Kriegsende nahte. Ende März 1945 sprengten die zurückgedrängten deutschen Truppen die Ederbrücke bei Niedermöllrich. Sie wollten die Amerikaner aufhalten. Die nachrückenden amerikanischen Pioniere entdeckten dann die Baustellen "Vor den Erlen" und nahmen das noch nicht verbaute Material mit und verwendeten es für die Errichtung einer Notbrücke.
Erneut galt es Bauholz zu organisieren. Zur Freude der Familie gelang es meinem Vater über den Verwalter Klingler vom Gutshof der Familie Henschel (Schloss Falkenberg) das notwendige Holz zu bekommen. Ende des Jahres 1946 war es dann soweit. Unsere Familie konnte in das sogenannte Behelfsheim einziehen. Bis dahin wohnten wir auf engem Raum bei Verwandten in Hebel. Von dort wurden alle Wege zur Arbeit und zur Baustelle zu Fuß unternommen.
Nach Kriegsende im Mai 1945 wurde die Dienststelle der Landesbauernschaft wieder nach Kassel verlegt. Verschiedene Häuser in unserer Straße wurden von den Bediensteten wieder verkauft. Seit dieser Zeit haben die Häuser oft mehrere Male ihre Besitzer gewechselt.