Das Kriegsgefangenenlager auf dem Gelände der Zuckerfabrik 1940 bis 1945
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurde der ursprüngliche Bau der späteren Gefangenenunterkunft zur Aufbewahrung von Futtermitteln genutzt, d.h. Heu und Stroh, die der Versorgung der fabrikeigenen Ochsen dienten. Vorher diente das Gebäude zur Zwischenlagerung derjenigen handentladenen Zuckerrüben, die mit der Bahn angeliefert wurden. Später wurde das Gebäude auch zur Aufbewahrung von Maschinenteilen gebraucht.
Noch vor der Kampagne 1940 wurde das Gebäude zur Unterbringung der Kriegsgefangenen baulich verändert. Die Größe der Baracke wird von Zeitzeugen unterschiedlich angegeben. Sie schwankt in deren Erinnerung zwischen einer Länge von 25 bis zu 80 Metern. Auch ihre Breite ist umstritten, sie wird zwischen sechs und zehn Metern beschrieben. Die Höhe betrug ungefähr dreieinhalb bis vier Meter. Höchstwahrscheinlich befanden sich sogar Wasseranlagen und Toiletten innerhalb der Baracke. Das Gebäude hatte ein starkes Fundament, die Aufbauten waren ursprünglich aus Holz. Die Baracke besaß im Weiteren eine abgetrennte Küche und eine Stube für das Wachpersonal, in der sich ca. vier bis fünf Landesschützen aufhielten, sowie den großen Schlaf- bzw. Aufenthaltsraum. Diesen Teil des Gebäudes verschlossen vermutlich nachts die Landesschützen. Das ganze Areal war ca. 40 mal 60 Meter groß und natürlich, wie vorgeschrieben, mit Stacheldraht umzäunt. Dennoch standen die beiden Tore des Lagers - ein kleines und ein größeres Tor - immer offen. Schließlich mussten die Kriegsgefangenen auch nachts zu ihren Arbeitsplätzen in der Fabrik. Das Lager befand sich direkt auf dem Fabrikgelände. Die Wachmannschaft zog 1941 oder 1942 in eine neu errichtete Holzbaracke um, die sich in unmittelbarer Nähe zum Lager befand, jedoch außerhalb der Umzäunung.
In der Baracke der Gefangenen lebten 40 bis 50 belgische und französische Inhaftierte. Diese hatten sowohl Hilfsarbeiten als auch verantwortungsvolle Aufgaben auf dem Fabrikgelände zu verrichten. Sie sorgten so für einen Ausgleich, da das Stammpersonal durch zahlreiche Einberufungen zur Wehrmacht stark reduziert worden war. Gearbeitet wurde in einem Zwei-Schicht-System. Der Wechsel der Schicht erfolgte sonntags. Die tägliche Arbeitszeit der Lagerinsassen betrug genauso wie bei ihren deutschen "Kollegen" während der Kampagne zwölf Stunden.
Während der Arbeitszeit waren die Gefangenen ohne Aufsicht. Sie konnten sich auf dem Gelände der Fabrik frei bewegen. Es war für sie sogar möglich, sich außerhalb des Fabrikgeländes frei zu bewegen, da das Betriebsgelände nicht verschlossen wurde. Des Weiteren war es ihnen erlaubt, die sanitären Einrichtungen, vor allem die Badeeinrichtungen des Stammpersonals mit zu benutzen. Aufgrund der harten Arbeit bekamen sie Sonderrationen in Form von Brot und Fett, die beim Landratsamt zuvor beantragt worden waren. Die Mahlzeiten bereitete eigens ein Koch des Lagers zu. Das Essen nahmen die Gefangenen allerdings getrennt von den deutschen Arbeitern ein.
Viele Lagerinsassen wurden von Kampagne zu Kampagne zum Einsatzort Wabern gebracht. Gleichzeitig muss aber auch davon ausgegangen werden, dass einzelne den Sommer über in Wabern verbleiben mussten, da ein enormer Arbeitskräftemangel herrschte. So erklärt es sich auch, dass Ende 1943 einzelne Inhaftierte schon in verantwortungsvollen Positionen arbeiteten. Die Lagerinsassen mussten in ihren Uniformen arbeiten, da sich die Leitung der Fabrik außer Stande sah, Arbeitskleidung zu stellen.
Da die Gefangenen während der Kampagne die gleiche Arbeit leisten mussten wie ihre deutschen Arbeiter, boten sich zahlreiche Gelegenheiten, Kontakte zu entwickeln. Eventuell gelangte so manches Stück Brot in den Besitz eines Kriegsgefangenen. Behandelt wurden die Inhaftierten, so mehrere Zeitzeugen, "hundertprozentig". Es sei ihnen des Weiteren kein Fall bekannt, dass ein Inhaftierter krankheitsbedingt in ein Lazarett eingewiesen werden musste. Auch von Aufsässigkeiten und Streitereien zwischen den Lagerinsassen und der deutschen Belegschaft ist nichts bekannt. So gab es auch keine Fluchtversuche. Diese hätten sich aber bei so manchem Fliegeralarm angeboten. Doch alle Inhaftierten kehrten regelmäßig zurück. Dazu hat wohl auch stark Dr. Hugo Boettger, der damalige Leiter der Fabrik, beigetragen. Er konnte sich fließend mit den Gefangenen auf französisch unterhalten, so dass kein Dolmetscher benötigt wurde. Er sorgte für ein kameradschaftliches und persönliches Verhältnis zu ihnen, welches unverkrampft und korrekt war. Schon zu Beginn des Lagers hatte er mit seinem persönlichen Einsatz dem Wachpersonal erklärt, dass "[...] irgendwelche Misshandlungen von vornherein unterblieben", so eine Aussage aus einer Spruchkammerakte. Deshalb bot wohl 1945 ein ehemaliger französischer Inhaftierter, René Lefranc, Doktor Boettger an, dass er bei eventuellen Problemen in Spruchkammerverfahren gerne für ihn aussagen würde. So bescheinigte er dem Leiter der Fabrik am 20. Juli 1945, "dass er immer korrekt mit dem Kommando der Kriegsgefangenen gewesen ist". Somit verwundert es auch nicht, dass das Verhältnis zwischen den Lagerinsassen und den deutschen Arbeitern ebenfalls kollegial war.
Kenntnis von diesem Lager besaß zumindest jeder Landwirt, der während der Kampagne seine Zuckerrüben in Wabern ablieferte. Im März oder April 1945 wurde das Lager nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen aufgelöst. Dabei kam es zu keinerlei Übergriffen.
Anfang bzw. Mitte der 60er Jahre wurde die Baracke abgerissen, da bauliche Veränderungen dies notwendig machten.
Zur Abbildung: Im Hintergrund der Baustelle ist ein Teil der Baracke der Kriegsgefangenen und die später errichtete kleine Baracke für die Wachmannschaften zu erkennen (Aufnahme ca. 1953).