Kalenderblatt März 2015

März 2015

"So war es früher" - Kindheitserinnerungen von Sigrid Laabs geb. Weidemann (Teil 1)

Frau Sigrid Laabs, geb. Weidemann, die Tochter des ehemaligen Hauptlehrers Valentin Weidemann (siehe Kalenderblatt Februar 2015) hat für ihre beiden Söhne ihre Kindheitserinnerungen in Wabern niedergeschrieben.

Mit freundlicher Genehmigung hat sie Auszüge aus ihren Aufzeichnungen "So war es früher" für eine Veröffentlichung freigegeben.

Ein "unmögliches Kind"

Wabern stand im Sommer 1943 Kopf. Der Hauptlehrer Valentin (genannt Velten) Weidemann und seine Frau Helene (genannt Leni) bekamen ein Kind. Er war schon 56 und sie 42 Jahre alt. Außerdem waren die Zeiten alles andere als günstig, um ein Kind in diese trostlose Welt zu setzen. Viele ahnten schon, dass der Krieg verloren war, aber keiner wusste, wie es mit Deutschland einmal weitergehen sollte.

Dennoch freuten sich Leni und Velten über den ungeplanten Nachwuchs. Sie waren nun schon zehn Jahre glücklich verheiratet und hatten nach zwei Fehlgeburten nicht mehr mit einem Kind gerechnet. Die drei Kinder aus Veltens erster Ehe waren erwachsen und aus dem Haus. Elsbeth war Krankenschwester an der Front in Russland, Hanna arbeitete in einer Drogerie in Kassel und Wilhelm kämpfte mit seinen 22 Jahren in Italien, wo er im darauf folgenden Jahr fiel.

Ein "besonderes Kind"

Nachdem ich dann endlich mit Verspätung und nach einer risikoreichen Zangengeburt in einer Privatklinik geboren war, wuchs ich trotz Krieg, Niederlage und bitterarmer Nachkriegszeit gesund und munter mitten in Wabern auf. Wie glücklich meine Eltern über meine Geburt waren, soll folgend Episode beschreiben.

Der Muttertag ist bekanntlich immer der zweite Sonntag im Mai. Der Muttertag im Jahre 1944 war nun der erste, den Leni Weidemann als Mutter feiern durfte. Es ist erstaunlich, wie phantasievoll der "alte", frischgebackene Vater seiner Frau zu diesem Tag gratulierte.

Er pflückte lila und weißen Flieder aus dem Vorgarten der Schule, belegte damit den Tisch im Wohnzimmer und legte mich splitternackt genau in die Mitte in den Flieder hinein. Um meinen Hals hatte er eine goldene Kette gelegt, die er seine Leni schenkte. "Aber das schönste Geschenk ist doch unsere kleine Sigrid", meinte er dann schmunzelnd.

Schulhaus, Schulhof mit Lindenbaum, die nahe Kirche, Gerths Hof und all die Nachbarn ringsherum waren meine Welt. Jeder schaute mit Wohlwollen auf den kleinen Nachkömmling. Ich hatte immer das Gefühl, von allen geliebt zu werden und etwas Besonderes zu sein. Jedes Schulkind und jeder Erwachsene kannte "Weidemanns Sigrid" und wachte über jeden meiner Schritte.

Mein Selbstbewusstsein war ungebrochen, bis mich ein größerer Schuljunge einmal als "Rotfuchs" beschimpfte. Ich konnte mir unter einem Fuchs zwar nichts Schlimmes vorstellen, aber ich merkte an dem Tonfall, dass es eine Beleidigung sein sollte und erzählte es weinend der Mutter. Sie richtete mein angeknackstes Selbstwertgefühl aber sofort wieder auf, indem sie sagte: "Der liebe Gott hat nur ganz wenige Menschen mit roten Haaren geschaffen. Du bist etwas ganz Besonderes und manche Menschen sind eben neidisch darauf". Das habe ich gerne geglaubt und für den Rest meines Lebens verinnerlicht.

Meine Zweitfamilie

Gegenüber der langgestreckten Schule, die eigentlich ein Doppelhaus mit zwei Lehrerwohnungen war, lag der Bauernhof und Werkstatt Gerths, (die Redaktion: genauer gesagt von Heinrich und Maria Morsch, siehe Kalender 2009/06). Auch hier war das Wohnhaus ein sehr langes Gebäude, denn im hinteren Teil lag die Schreiner-und Stellmacherei. Am Ende stand quer die Scheune, an die sich links noch der Stall anschloss, wo auch das gefürchtete Plumpsklo gleich neben der Miste stand.

Onkel Gerth hieß eigentlich mit richtigem Namen Morsch und war Landwirt, Schreiner und Stellmachermeister. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann mit schütterem Haar und einer starken Brille auf der Nase. Er sprach nicht viel, war aber immer freundlich und hatte viel Geduld mit uns Kindern.

Tante Gerth war immer beschäftigt. Sie arbeitete in der Küche, im Garten, im Stall oder auf dem Feld. Ich kann mich nicht erinnern, sie einmal müßig im Sessel sitzend erlebt zu haben.

Gerths hatten zunächst drei Kinder, die alle schon in die Schule gingen. Elisabeth war bei meiner Geburt ungefähr zehn, Lischen zwei Jahre jünger und Hoferbe Georg war ungefähr drei Jahre älter als ich.

Georg war zunächst der Kronprinz und ließ sich von den beiden Schwestern verwöhnen. Er war natürlich mein Idol und mein erster richtiger Freund. Nachdem Georg aus dem Kleinkindalter heraus war, konnten die beiden Mädchen ihre mütterlichen Gefühle auf mich richten, und so wurde ich von ihnen immer gut betreut.

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